Mit Strohsack, Fell und Wolldecke im mittelalterlichen Herrenhaus übernachten. Klingt gemütlich, ist bei Schneegraupel aber ein Härtetest. Wie Menschen im Mittelalter gelebt, gegessen und gearbeitet haben, zeigen die Darsteller im Geschichtspark Bärnau-Tachov so authentisch wie möglich.
Gerald Uhl schlägt den Feuerstahl an den schmalen Rand des Feuersteins. Ein Funke blitzt auf, erlischt, beim dritten Mal verfängt er sich im Rohrkolbensamen auf dem Stein. Uhl bläst vorsichtig, umfüttert ihn mit Stroh. Das Flämmchen qualmt, sorgsam hüllen seine Hände es ein, sacht versorgt er es mit Sauerstoff. Es glimmt hell, als er es auf die Holzspäne in der Feuerstelle legt. Mehr Rauch, mehr Puste – bald nimmt er ein kupfernes Blasrohr, facht die Glut punktweise an und mit einem Wusch züngeln Flammen empor. Uhl lacht. Ich atme aus und lache mit.
Gerald Uhl kniet vor der Kochstelle in einer Holzhütte. Noch vor einer Stunde saß er im Auto, fuhr im Feierabendverkehr von Weilheim in Oberbayern an die tschechische Grenze ins oberpfälzische Bärnau. Hightech ist das tägliche Geschäft des Chemietechnikers – das Leben im Mittelalter seine Leidenschaft. Als er am Freitagabend im Jackett aus dem Auto steigt, ziert eine Harley-Davidson die Krawattennadel. Die silbernen Haare sind zum Zopf gebunden, sein Bart umschließt im Henryquatre-Stil den Mund, ist aber nicht promi-kurz getrimmt. „Königlich, männlich verwegen und dabei stets stilvoll“, charakterisiert das GQ-Magazin diesen Typ. Uhls Haltung passt dazu: Locker und aufrecht steht er da. Einer, der es nicht nötig hat zu beeindrucken.
Der Mittelalterfan heißt mit vollem Namen Gerald Uhl de Canehan. Als Darsteller des 8. und 10./11. Jahrhunderts ist er als Gerald der Uhl zu Wilhaim (Weilheim) oder kurz als „der Uhl“ bekannt. Für sein Engagement bekam er 2016 in Frankreich den Ehren-titel „Eustache (II) Comte de Boulogne“ verliehen.
Unter diesem Namen ist er oberster Feldherr des Franko-Flämischen Contingents „FFC1066 Das Contingent“. Diese militärische Einheit stellt – einzig-artig in Europa – historisch korrekt und hochqualitativ ausgerüstet militärisches Leben des 11. Jahrhunderts nach. Zudem ist er Trainer für Historische Europäische Kampfkunst (HEMA). Seit 2018 ist seine Familie Pate für das Herrenhaus in Bärnau, das 2013 erbaut wurde.
Seine Freizeit widmet der 54-Jährige dem Mittelalter. Er sagt: „meine Zeit“ und meint das 11. Jahrhundert. Im Geschichtspark Bärnau-Tachov findet er Gleichgesinnte. In dem archäologischen Freilichtmuseum stehen rund 30 nach Funden rekonstruierte Gebäude. In drei Siedlungen bilden sie die Zeit von 800 bis 1300 n. Chr. ab – lebendige Geschichte, historisch korrekt. Aufgebaut hat den Park der Verein „Via Carolina – Goldene Straße“ mit viel Herzblut und ehrenamtlicher Arbeit.
Herz für historische Details
Während Uhl aus seinen Holztruhen den Tisch mit Keramikbechern, Holztellern, Geselchtem, Karotten, Äpfeln, Trockenfrüchten, Mandeln, Butter, Brot, Tee und Bier deckt, erzählt er. „In Bayern hat das im 11. Jahrhundert gut funktioniert.“ Das Mittelalter war weder so finster wie die Renaissance glauben machen wollte, noch so entbehrungsreich. Der Mittelalter-Darsteller hat sich fundiertes Wissen angeeignet. Aus der „Capitulare de villis“, einer Verordnung Karls des Großen im 8. Jahrhundert, zitiert er Details des dörflichen Lebens. Stolz stellt er ein blaues Trinkglas auf den Tisch, welches er akribisch nachbilden ließ. „Als wohlhabender Lehnsherr ist es vorstellbar, dass ich so ein Glas besitze.“ Zwölf dieser Gläser aus Byzanz, dem heutigen Istanbul, sind bereits im 8. Jahrhundert nördlich der Alpen belegt. „Man muss sich vorstellen, irgendwo wird ein Schiff bepackt, kommt in Venedig an, dann wird umgepackt, per Ochsenkarren geht es über die Alpen. Was da alles passieren kann: ein Überfall, ein Rad bricht, der Karren kippt um, mit jedem Stück, das ankommt, zahlt man die Verluste mit.“
Seit 2006 leben Uhl und seine Familie intensiv das Hobby „Mittelalter“. Er leitet einen Verein, sie unterstützen Archäologen und engagieren sich bei Reenactments, der authentischen Neuinszenierung geschichtlicher Ereignisse. Als Pate für das Herrenhaus verkörpert er den „Ministerialen“, einen Lehnsmann eines Grafen der Diepoldinger-Rapotonen, die zum Ende des 11. Jahrhunderts die Vor-macht in Bayern hielten. Der Posten liegt ihm. Er ähnelt der Position, die er im „echten Leben“ innehat. So groß der augenfällige Unterschied ist, so ähnlich ist die Herangehensweise. Sowohl im Beruf als auch als Hobbyhistoriker und -archäologe tüftelt er wissenschaftlich fundiert bis zur Lösung und packt mit an. Die Verantwortung für mehrere raue Kämpfer, die besonnene Führung und Sorge für einen Haushalt mit Gesinde nimmt man ihm ab. Seine Haltung wirkt bescheiden, doch er ist selbstbewusst: „Aufgrund der Erfahrung mit Archäotechnik und meinen Recherchen bin ich überzeugt, dass es im Mittelalter so gewesen sein kann.“ Seine Rolle passe zu seinem Charakter. „Ich könnte kein Raubritter sein, aber Kämpfer oder Heerführer durchaus. Ich spiele am liebsten in der zweiten Reihe. Gut mit seinen Leuten auskommen, sehen, dass die Arbeit läuft, macht mir Freude. Wissen vermitteln, die Leute wieder an ihre Wurzeln erinnern, das finde ich wahnsinnig spannend.“
„Dieses Leben erdet ungemein“
Das kleine Ofenfeuer, das Uhl stetig mit Holz versorgt, und zwei Bienenwachskerzen sorgen für spärliches Licht. Die Hütte steht in der Arbeitswoche leer, es ist kalt – und wird es auch bleiben. Draußen hat es 2 Grad Celsius, innen ist es unwesentlich wärmer. Zwei kleine Fensterchen sind mit Filz verhängt. Dieses Wochenende belebt Uhl mit zwei Freunden das Herrenhaus. Philip Bauer, versiert in Küchenfragen, wird morgen Mittag über dem Feuer einen Hirschbraten nach mittelalterlichem Rezept mit Hirsebrei und Wurzelgemüse kochen. Marco König stellt eigentlich einen Feldgeistlichen dar, für Uhl ist er dies-mal Schreiber, Knecht und Handwerker. An rund zehn Wochenenden pro Jahr herrscht im Geschichtspark reges Leben: Darsteller färben, schmieden, schnitzen, reparieren – leben mittelalterlichen Alltag, präsentieren die Häuser liebevoll inszeniert und erklären für Besucher. „Man erfährt wieder, dass harte Arbeit zufrieden stellen kann, wenn man etwas geschafft hat.“ Das findet Uhl gut. „Dieses Leben erdet ungemein. Man braucht ganz wenig.“
Was kostet so ein Hobby? Uhl winkt ab: „Da kannst schon was ausgeben.“ Für handwerkliche Kunst zahlt man, schnell summieren sich fünfstellige Beträge. Fachsimpelt er mit Freunden, merkt man: Vieles ist selbst gemacht, am Lagerfeuer handgefärbt. Holztruhen, eine Brotdose aus Birkenrinde, die Schwertscheide, Kleidung, Socken, Mantel sind eigene Handarbeit. Kettenhemden, Waffen, Töpfe werden gekauft. Mit Gold umwickelten Seidenfaden gibt es in Japan, Borten und Birkenrinde in Russland und Ried für Dächer am Plattensee. Die Mittelalterszene ist international, der Zusammenhalt groß. Es ist ein Hobby für die ganze Familie. Die Töchter von Kerstin und Gerald Uhl waren von klein auf mit dabei. „Sobald ein Kind in Klamotte auf einem Markt rumläuft, haben alle ein Auge drauf. Lagerkinder schließen schnell Freundschaft, können sich beschäftigen.“
Eng am Feuer könnte ich stundenlang zuhören, doch es ist spät. Uhl lässt das Feuer ausgehen – Funken wären brandgefährlich – und zieht sich in den Schlafraum zurück. Auf meinem Strohsack im Hauptraum halten zwei Schaffelle und eine dicke Decke die Kälte ab. Neulinge schlafen voll bekleidet. Dennoch wache ich im Morgengrauen frierend auf. Licht dringt durch die Lücken der Hüttenbretter. Beim Gang nach draußen werden die Lederschuhe nass und den ganzen Tag nicht mehr trocken. Es schneit. Regen, Sonne, Schnee. Drei Jahreszeiten an einem Tag sind hier, in „Bayerisch-Sibirien“, im Frühling und Herbst keine Seltenheit. Tagsüber ist die Tür des Hauses einladend für Museumsbesucher geöffnet.
Der Herr der Motte demonstriert die Rechtsprechung und schildert die Bewaffnung der Motte, dieses taktischen Außenpostens. Gerald Uhls handgefertigtes Schwert passt perfekt zu seiner Hand und Größe. „Schnelles Töten war damals üblich. Man zielte auf Stellen, die verwundbar oder sichtbar waren, also Augen und Hände.“
Vormittags holen die Männer gelöschten Kalk von der großen Schaubaustelle im Geschichtspark. Der Herr der Motte schlüpft in alte Sachen, verrührt Kalk und Wasser, weißelt mit der Malerbürste Hauswände, ist wieder Diener. Warum man Kälte und Matsch in Kauf nimmt? Er lacht: „Ein Freund sagte mal: ‚Weil wir einen Sockenschuss haben!‘ A bisserl verrückt muss man schon sein.“ Die Wollkleidung und seine gefilzten Sohlen in den Lederschuhen eignen sich für jedes Wetter, wärmen auch nass. Und Arbeit hilft. Philip schneidet, brät und dreht die Töpfe am Feuer – es wird vorzüglich schmecken. Einträchtig arbeiten die Männer: holen Wasser, kalken, legen Holz nach, beantworten Fragen von Besuchern. „Kalk ist ein natürlicher Holzschutz.“ Es ist ihre erste historische Maleraktion. Chemisches Wissen, Gehirnschmalz, Tatkraft, einfache Mittel – schließlich zufriedenes Aufatmen. Rasch trocknet die Farbe: „Hey, schau mal, wie hell das ist!“ – „Die waren ja nicht blöd damals!“