Der Gunthersteig: Pilgern zwischen Bayerwald und Böhmerwald

Eine Pilgertour entlang des Stubenbachs auf tschechischer Seite. Foto: Daniela Feldmeier

Seit 2021 zählt der Gunthersteig offiziell zu den bayerischen Pilgerwegen. Auf den Spuren des Mönchs St. Gunther führt er durch den Bayer- und Böhmerwald. In mehrfacher Hinsicht eine Grenzerfahrung

“Auf Dich vertrau’ ich und fürcht’ mich nicht.” – glockenklar klingt die Singstimme von Pilgerbegleiterin Helga Grömer durch den Wald. Der Regen trommelt auf das Blätterdach, der Schlamm unter unseren Füßen schmatzt. Vor uns erhebt sich ein etwa zehn Meter hoher Gesteinsblock. Schon seit über 1.000 Jahren thront er auf dem Ranzinger Berg. Nur das Kreuz auf seiner Spitze ist nachträglich hinzugekommen. Es erinnert an den Mönch Gunther.

Weitere Fotos von der Pilgerreise:

Vor einem Jahrtausend bahnte sich der Ordensmann einen Weg von der Donauebene über den Bayerwald bis ins böhmische Grenzland. Sein Auftrag bestand darin, den Bayerischen Wald zu roden und zu besiedeln. Der Felsblock bot dem Rodungsmönch aus dem Kloster Niederaltaich – heute in brauner Kutte und mit einer Hacke in der Hand dargestellt – 1008 einen Unterschlupf, als dieser sein Eremitenleben im Bereich Lallinger Winkel im Bayerwald begann.

"Pilgern bedeutet, an seine Grenzen zu gehen."

Mit klammen Fingern bei neun Grad Celsius und dem Wind im Nacken kann ich mir gut vorstellen, wie unwirtlich der “Nordwald” zu Zeiten Gunthers gewesen sein muss. Grömers Stimme verstummt und mein Blick fällt auf den Pilgerstab in meiner Hand. Die Pilgerbegleiterin trägt auf all ihren Reisen einen eineinhalb Meter hohen Haselnussstock bei sich. In unserer Pilgergruppe wandert er reihum, jeder kann sich darauf abstützen. “Pilgern bedeutet, an seine Grenzen zu gehen. Da kann der Stab zu einem richtigen Freund werden”, hat uns Helga Grömer beim Aufbruch am Morgen in der St. Stephanus Kirche in Lalling erklärt. Als unerfahrene Pilgerin hat er mich auf den ersten Kilometern des Weges begleitet. Jetzt gebe ich ihn weiter.
Unsere Gruppe besteht aus zwei Neupilgerinnen, dem pensionierten Pfarrer Georg Duschl und Helga Grömer. Gemeinsam pilgern wir auf dem Gunthersteig. Die Route vom niederbayerischen Niederalteich bis ins tschechische Dobrá Voda galt bis vor kurzem als Fernwanderweg. Im Rahmen eines Interreg-Projekts wird der ursprüngliche Weg erweitert und führt nun offiziell bis nach Blatná. In Erinnerung an Gunther ist er fortan als grenzüberschreitender Pilgerweg ausgeschrieben. Die 160 Kilometer sind in neun Etappen eingeteilt und werden aktuell durch das Symbol der schwarzen Hacke beschildert.

Den Blick nach innen richten

 

Nach der Rast am Guntherstein lädt Grömer ein, die nächste Wegstrecke schweigend zu gehen. “Anders als beim Wandern liegt der Fokus auf einem selbst. Richtet euren Blick also nach innen”, leitet sie uns an. Im Gänsemarsch gehen wir los – den Forstweg entlang durch Pfützen, durch hohes Gras, vorbei an rauschenden Bächen. Ein Specht hämmert. Regen prasselt auf mein Cape. Während der ersten halben Stunde nehme ich nur diese Geräusche wahr. In meinen Oberschenkeln zieht es, meine Atmung wird immer schneller. Es fällt mir schwer, in mich hineinzuhören. Dann gehen mir Grömers Worte “Lärm verbraucht, Stille nährt” durch den Kopf. Nach und nach kann ich die Blockade in meinem Kopf überwinden und gleite in die Stille.

Wir pilgern vorbei an Blumenwiesen, Schafherden und Pferdekoppeln. Die Wolken lichten sich und die Sonne blinzelt hervor. Helga Grömer bleibt immer wieder stehen und pflückt Margeriten, Schlangen-Knöterich und Traubenhyazinthen. Die Blumen befestigt sie mit einem Gummi oben an ihrem Pilgerstab. Nach und nach bildet sich ein Wiesensträußchen, das von unserer gut 20 Kilometer langen Tagesetappe erzählt.

„Das unruhige Herz ist die Wurzel aller Pilgerschaft.“

Auf den letzten Metern vor unserem Tagesziel gelingt es mir, immer besser in mich hineinzuhören. Ich habe nichts bei mir außer wasserfester Kleidung und einem Rucksack, bin nur wenige Kilometer von der eigenen Haustür entfernt. Am Morgen habe ich bei strömendem Regen meine Komfortzone verlassen, habe mich fremden Menschen anvertraut und folge ihnen auf einem Weg, von dem ich nicht weiß, was er für mich bereithält. Ist das nun schon die spirituelle Erfahrung des Pilgerns? Helga Grömer antwortet: “Für mich ist Pilgern eine innere Haltung voller Offenheit für die Dinge, die mir am Weg und in mir selbst begegnen. Vor allem hat es für mich aber auch eine religiöse Bedeutung, aber das muss nicht für jeden so sein.”
Unser erster Pilgertag endet in der ehemaligen Klosterkirche Rinchnach. Kloster und Kirche hatte Gunther mit seinen Mitbrüdern aus Niederaltaich aufgebaut. Damit legte er den Grundstein für die Besiedelung des Mittleren Bayerischen Waldes und ist nachweislich der Gründer Rinchnachs. Laut Grömer ist der Ort somit “kulturhistorisch die wichtigste Station auf dem Gunthersteig.”

Der Gunthersteig

Der Gunthersteig ist einer der prägendsten Besiedelungswege Bayerns und Böhmens. Bis zum Herbst 2021 wird die Route auf böhmischer Seite bis nach Blatná verlängert. Die 160 Kilometer lange Pilgerstrecke ist in neun Etappen eingeteilt und mit dem Symbol der schwarzen Hacke des Rodungsmönchs gekennzeichnet. Übernachtungs- und Einkehrmöglichkeiten finden sich in der Broschüre "Gunthersteig", die unter www.arberland.de oder www.gunthersteig.com angefordert werden kann.

Am nächsten Tag leuchtet im Hügelland oberhalb des Dorfes ein weißer Tupfer aus dem dunkelgrünen Meer aus Nadelbäumen: die Wallfahrtskriche Fraunbrünnl in Gehmannsberg oder auch einfach das “Guntherkircherl”. Um für die Rodungsarbeiten im Tal auf die anderen Mönche zu warten, soll Gunther 1011 an dieser Stelle überwintert haben. “Zur Zeit Gunthers ist hier eine hölzerne Kapelle errichtet worden, die um 1766 einem gemauerten Kirchlein weichen musste”, sagt Natur- und Landschaftsführer Klaus Kreuzer, der sich am zweiten Tag unserer Pilgergruppe anschließt. Als wir weiter ins Nationalparkgebiet pilgern, erzählt Kreuzer, wie das Guntherkircherl sein Leben verändert hat. “Vor 15 Jahren hat eine Begegnung mit einem Wanderführer genau an diesem Ort dazu geführt, dass ich mein altes Leben aufgegeben und meine Liebe zum Bayer- und Böhmerwald entdeckt habe.”

Das “gelobte Land”

 

Daraufhin ließ er sich zum Naturführer ausbilden, lernte Tschechisch und verbringt seither jede freie Minute in seinem “gelobten Land”. Damit macht er mich neugierig auf die heutige Grenzüberschreitung. Unser Weg soll uns bei Gsenget über die deutsch-tschechische Grenze weiter durch den Böhmerwald bis nach Prášily führen.

Die Route Gunthers verläuft durch den Wald hinauf zum Grenzübergang. Die Vegetation verändert sich. Umgestürzte Bäume säumen den Weg, weite Flächen auf denen Baumstümpfe aus dem Boden ragen und Äste wie die Stäbchen beim Mikado-Spiel zufällig hingeworfen wurden. Meine Fußsohlen schmerzen. Schritt für Schritt pilgern wir auf die Grenze zu, an der ehemals der Eiserne Vorhang verlief. Mindestens 1.000 Menschen sollen an der tschechoslowakischen Grenze zu Deutschland und Österreich bis 1989 ihr Leben verloren haben. Ist das vielleicht Pilgern? Im Gedenken an mutige Menschen auf deren Spuren zu wandeln? Auch ohne religiösen Hintergrund?

Im Böhmischen Grenzland

 

Mit diesem Gedanken im Kopf laufe ich auf das weiße Schild mit der schwarzen Aufschrift “Landesgrenze” zu. Eine Holzbrücke führt über einen kleinen Bach und schon sind wir im Böhmischen Grenzland. Klaus Kreuzer grüßt zwei Wanderer auf Tschechisch mit “dobrý den” (Anm. d. Redaktion: “Guten Tag”) Die Sprache hier verstehe ich nicht. Die Straßenschilder kann ich nicht lesen. Ich bin nun in der Fremde angekommen und begreife das Wort “Pilgern” in vollem Umfang. Es stammt ursprünglich vom lateinischen Wort “peregrinus” und bezeichnet eine Person, die aus Glaubensgründen in die Fremde zieht.

Der Wald wird wieder dichter. Wir wandern am Stubenbach entlang in das etwa fünf Kilometer entfernte Prášily. Die Menschen auf dem Weg lächeln uns zu. Wir sind Reisende in der Fremde. Oder “Grenzgänger, die Völkerverständigung betreiben”, wie Klaus Kreuzer es ausdrückt. Wir wandeln auf den Spuren herausragender Zeitzeugen und finden dabei – im besten Fall – zu uns selbst.
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Matthias Jell

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