Einen Sommer auf dem Berg zu verbringen – davon träumen viele. Anja Beilhack, seit drei Jahren Sennerin auf der Mordau-Alm im Berchtesgadener Land, kennt die Realität: harte Arbeit, aber auch viel Freiheit.
Wer seinen Alltag am Schreibtisch verbringt, mag schon einmal von einem Sommer auf einer Alm träumen. Wie gut hat es eine Sennerin, die sich hier eine monatelange Auszeit gönnen kann. Was könnte idyllischer sein, als neben glücklichen Kühen auf einer Bergwiese zu entspannen, über einem der stets weißblaue Himmel?
Zwischen Bewirtschaftung und Bewirtung
Über solch romantisch-verklärte Vorstellungen vom Sennerinnen-Leben kann Anja Beilhack nur lachen. Sie verbringt den dritten Sommer auf der Mordau-Alm im Berchtesgadener Land, auch davor war sie bereits vier Jahre Sennerin. In diesem Sommer ist sie für das Wohl von 17 Pinzgauer Kühen und den Gästebetrieb verantwortlich. Das bedeutet: für die Gesundheit der Tiere, die Ablieferung der Milch im Tal, das Käsen und die Bewirtung der Gäste mit hausgemachten Produkten.
Der Tag auf der Alm beginnt um 5 Uhr morgens. Schon jetzt ist einiges los. Allerdings sind es keine zwei-, sondern vierbeinige Wanderer, die die Alm ansteuern: Die Kühe kommen zum Melken zu ihrem Stall und machen sich durch lautstarkes Muhen bemerkbar. Von wegen ruhiger Morgen am Berg! Anja hat im Stall am Vorabend alles vorbereitet: Die Kühe machen sich gleich über das frische Heu her. Die Sennerin verteilt die Melkzeuge, reinigt die Euter. Die Melkmaschine läuft. Zwei Kälber, Kranzei und Glanz, saugen gierig Milch aus ihren Eimern, die an der Box aufgehängt werden. Kranzei stößt ungeduldig mit dem Kopf gegen den Eimer. “Druck ihn nieder”, ruft Anja mir zu, da ich ein wenig mithelfen darf. Die Milch schwappt nach oben. Es kostet einiges an Kraft, die Eimer an Ort und Stelle zu halten.
Globuli auf die Nase der Kuh “Kitzi”
Kurze Zeit später wird es stiller im Stall. Das Scheppern der Kuhglocken verklingt, als sich die Kühe auf den Boden legen. Jetzt werden die Sorgenkinder behandelt. “Kitzbühel” hat eine Entzündung am Euter, ihre Milch muss weggeschüttet werden. “Ja, Kitzi, du Brave”, beruhigt Anja das Tier, während sie ihm Quark – hier nennt man ihn „Topfen“ – aufs Euter streicht. Zum Abschluss der Behandlung sprüht sie der Kuh in Wasser gelöste Globuli auf die Nase.
Was heute wegfällt, ist die Fahrt ins Tal nach Ramsau: Dort wird jeden Morgen die Milch für die Genossenschaftsmolkerei Berchtesgadener Land abgeliefert. An diesem Tag aber wird in der Milchkammer aus den 205 Litern Milch Hartkäse gemacht. Dafür mischt die Sennerin in Milch aufgelöste Käsekulturen in den Milchtank. Alle anderen Käsesorten macht sie mit Buttermilch und anderen natürlichen Kulturen. Mit einer Art riesigem Schneebesen rührt sie die Mischung in die Milch ein.
Frühstück? – Fehlanzeige! Anja streicht den Kühen kühlendes Anti-Mückengel auf die Euter, dann werden die Tiere auf die Wiesen entlassen. Gleich danach schrubbt die Sennerin im blauen Overall den Stallboden. “Kein Bauer frühstückt vor dem Stallgehen“, erklärt sie. “Aber vorher mag ich auch
nichts, da könnt ich gar nichts essen.” Die Melkmaschine muss auch noch gereinigt werden. Als Stress empfindet sie ihre Arbeit nicht. “Was ich in der Früh schaffe, habe ich nachher mehr Zeit.“
Auf der Alm gibt es keinen Handy-Empfang
Anjas Freundin Andrea verbringt den ersten Sommer als Sennerin auf dem benachbarten “Gschoß-Kaser“. Als Kaser wird eine Almhütte bezeichnet, während der zugehörige Bauernhof im Tal “Lehen“ heißt. Andrea hat heute ein Problem mit einer der sechs Kühe, die sie betreut: “Lotte“ hat Durchfall. “Ich tippe darauf, dass sie etwas Falsches gefressen hat“, meint Anja und betastet den Bauch der liegenden Kuh. Sie rät Andrea, vorsichtshalber den Tierheilpraktiker anzurufen. Auf der Alm gibt es keinen Handy-Empfang, Andrea muss ihre Anrufe erledigen, wenn sie die Milch ins Tal fährt.
Zurück in der Milchkammer prüft Anja die Temperatur der Milch, aus der Käse werden soll. 27 Grad Celsius – passt! Jetzt wird Lab eingerührt, die Milch muss sich “dicklegen“. Um 7.40 Uhr wischt die Sennerin den Boden der Milchkammer. Nun kann es ans Frühstücken gehen, Anja verschwindet vorher noch in die Dusche. Bei Brot, Käse, Butter, Honig, Marmelade und Kaffee kehrt kurze Zeit später zum ersten Mal an diesem Morgen Ruhe ein. Die Sennerin – jetzt sorgfältig frisiert, im geblümten Rock und grünen T-Shirt – sieht dem Klischeebild schon ähnlicher. Die harte Arbeit des Morgens merkt man ihr nicht an.
“Ich wollte schon als kleines Mädchen Sennerin werden“, erzählt Anja. Ihr Vater kommt aus der Landwirtschaft, ebenso die Großmutter mütterlicherseits. Der Großvater war Viehhändler und Metzger. “Seit ich 14 war, habe ich auf unterschiedlichen Höfen Urlaubsvertretung und Verwandtenhilfe geleistet.“ Und viel gesehen, was sich jetzt bezahlt macht. Und die harte Arbeit? „Mir taugt’s einfach.”
Es ist auf der Alm nicht leicht, Kontakt zur Außenwelt zu halten: Es gibt kein Internet, kein Fernsehen, kein Telefon. Bei den Milchfahrten werden zwar kurz Nachrichten abgerufen und wichtige Telefonate erledigt. Aber sonst ist man hier oben abgeschnitten. Einsam fühlt sich Anja dennoch nicht. “Ich habe Glück mit der Nachbarschaft”, sagt sie. Da gibt es den Kederbach-Kaser, eine Alm, die ebenfalls bewirtschaftet ist. Und ihre Freundin Andrea auf dem Gschoß-Kaser gleich nebenan. Mit ihr und Kathrin, der Nichte vom Gschoß-Bauern, sitzt sie abends gerne zusammen. “Wenn irgendwas ist, helfen wir uns gegenseitig, und sonst ist es einfach eine Gaudi.”
Der Geruch des Holzfeuers erfüllt die Küche
Dann ist das Frühstück vorbei. Anja bindet sich eine Schürze um und heizt den Holzofen an: “Im Holzofen wird das Brot geschmacklich einfach besser.“ Vor dem Brot wird aber noch ein Topfenkuchen gebacken, heute mit einer besonderen Zutat: Von einer befreundeten Bäuerin hat Anja zwei große Enteneier bekommen. Der Geruch des Holzfeuers erfüllt die Küche. Die Sennerin holt eine Schüssel mit selbst gemachtem Topfen aus dem Keller, rührt den Kuchenteig, der in den zweiten Backofen kommt. Um 9.10 Uhr geht es kurz in die Milchkammer. Im Milchtank hat sich an der Oberfläche Gallerte gebildet. Mit dem großen Quirl wird die Masse kräftig durchgerührt. “Kasen braucht seine Zeit“, sagt Anja. Die Zeit dazwischen wird optimal genutzt: Zurück in der Küche, rührt Anja den Teig für das Bierbrot zusammen.
Gegen 10 Uhr kommt Andrea vorbei, bei ihrer Milchfahrt hat sie den Tierarzt noch nicht erreicht. “Lotte“ geht es nicht besser, was ihr Sorgen bereitet. “Gib ihr Schwarztee mit Salz und Honig“, schlägt Anja vor. Als Andrea gegangen ist, steigt Anja die Treppen zum Keller hinunter. Im kühlen “Kaskeller“ reifen Hartkäse-Laibe auf Holzregalen. Sie müssen regelmäßig mit einer Salzlake eingerieben werden. Anja legt nacheinander jeden der sieben Laibe auf den Tisch, taucht eine Bürste in einen Eimer mit Lake und bürstet die Rinde ab. Manche haben eine gelbe, harte Rinde, andere sind eher cremefarben –
an der Farbe erkennt man den Reifegrad und das Alter.
Auf der Alm werden keine Lebensmittel weggeworfen
Um 10.20 Uhr richtet Anja in der Stube neben der Küche den Ausschank her. Stefan, Franz und Karl sind die ersten Gäste an diesem Tag – keine Wanderer, sondern Handwerker, die hier Pause machen. “Die Alm lag auf dem Weg“, sagt Franz schmunzelnd. Anja setzt sich zu ihnen, ganz kurz. Dann muss sie wieder in die Milchkammer. “Jetzt wird der Bruch gewaschen“, sagt sie und schöpft die Molke ab, die im Tal an die Schweine verfüttert wird. Hier werden keine Lebensmittel weggeworfen, und das war schon so, als noch niemand über Nachhaltigkeit gesprochen hat. Anja gießt heißes Wasser in den Tank, in dem sich kleine Käsestücke gebildet haben, und rührt den Bruch durch. Zur Reifung braucht der Käsebruch eine höhere Temperatur. Anja schiebt einen Gasbrenner unter den Milchtank und hängt ein Thermometer in den Tank. Noch sind es 28 Grad Celsius, auf über 40 Grad Celsius soll die Temperatur steigen.
Um 11 Uhr holt die Sennerin den Topfenkuchen aus dem Backrohr. Schön gelb ist er geworden, was den Enteneiern zu verdanken ist. Anja legt Holz nach, das Brot braucht noch Zeit. Draußen wird es lebhaft, jetzt kommen die ersten Wanderer. Das Wetter ist zum Wandern ideal – nicht zu warm, aber sonnig. Es werden Brotzeitteller, Apfelschorle, Bier, Kuchen und Buttermilch bestellt. Anja bereitet routiniert die Brotzeitplatten zu und trägt sie zum “Gatterl“, wie sie den Ausschank nennt, wo sie die Platten mit strahlendem Lächeln den Gästen übergibt. Das Brot ist fertig und kommt aus dem Backrohr.
Die Wanderer sind nicht die einzigen, die die Mordau-Alm ansteuern. Auch die Kühe sind zurück und stehen vor dem Stall. Sie werden zwar erst wieder abends gemolken, dürfen aber bei Hitze früher in den Stall, wo es noch einmal eine Portion Heu und Kraftfutter gibt. Auch der Käse muss wieder gerührt werden – erst dann hat die Sennerin Zeit für ihre Gäste, die inzwischen vor der Almhütte Platz genommen haben.
Zum Mittagessen gibt’s ein “Almpfandl”
Gegen 12 Uhr kommt Kathi mit den bestellten Einkäufen: Die Bäuerin, für die Anja arbeitet, hilft gleich noch mit bei der Bedienung. Drei verschiedene Kuchen können heute angeboten werden. “Anja ist eine sehr fleißige Sennerin“, sagt Kathi. “Ich konnte am Anfang gar nicht glauben, dass sie so viele Kuchen backt!“ Gegen 13.30 Uhr gibt es Mittagessen in der Küche der Mordau-Alm. Die Gäste draußen sind versorgt. Für sich und ihre “Belegschaft” hat Anja ein “Almpfandl“ zubereitet aus allem, was da war – und das schmeckt richtig gut. Auch Andrea isst mit.
Der Tierheilpraktiker war noch nicht bei ihr, und “Lotte“ hat den Tee nicht getrunken. Draußen hat der Trubel nachgelassen. Eine Gruppe befreundeter Landwirte hat sich eingefunden, Kathi gibt eine Runde Schnaps aus. Es wird über “Lottes“ Zustand gefachsimpelt. Um 14.45 Uhr schöpft Anja wieder Molke aus dem Milchtank. Jetzt schöpft sie die bröckelige Käsemasse in runde Plastikformen, die Löcher haben. Insgesamt füllt sie fünf Formen, bei einigen streut sie Kümmel und Pfeffer ein, andere bleiben ungewürzt. Auf den Deckel der Formen kommt eine weitere Form, durch den Druck fließt das Wasser heraus. Nach zwei bis drei Tagen wird Anja den Käse aus den Formen nehmen und mit Salz einreiben – dann kommt er in den Kaskeller, bis der gewünschte Reifegrad erreicht ist.
Freude über den Besuch aus dem Tal
Inzwischen ist es 16 Uhr und der Tierheilpraktiker war bei “Lotte“. Er konnte Entwarnung geben – der Kuh geht es wieder besser. Nach 17 Uhr haben sich die letzten Gäste der Mordau-Alm verabschiedet. Anja wird im Stall noch anderthalb Stunden mit dem Melken, der Versorgung der Kühe und dem Saubermachen beschäftigt sein. Dann dürfen die Kühe bis zum frühen Morgen wieder raus auf die Bergwiesen. Erschöpfung ist der jungen Sennerin nicht anzumerken, im Gegenteil: Sie freut sich, später noch bei Andrea vorbeischauen zu können. Freunde aus dem Tal haben ihren Besuch angekündigt. Dann geht ein ganz normaler Tag auf der Alm zuende.