Murnau war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Treffpunkt von Künstlern im Umfeld des Blauen Reiters. Heute ist Murnau genau wie Prien am Chiemsee und Dachau mit anderen Künstlerkolonien in ganz Europa vernetzt: Orte, an denen das kulturelle Erbe bewahrt wird, aber auch zeitgenössische Kunst erlebt werden kann.
Ein Arm ist ausgestreckt, der andere angewinkelt, geradezu grotesk spreizen sich die Finger. Das Bild zeigt eine menschliche Gestalt, nackt, überlebensgroß, ihr Gesicht zum Schrei verzerrt. „Das ist Mathilde“, sagt Marc Völker, als würde er jemanden persönlich vorstellen. „Mathilde ist Ausdruckstänzerin.“
Wir stehen vor dem „Kuhaus“, einem ehemaligen Kuhstall mitten in Murnau, der jetzt als Atelier und Ausstellungsraum dient. Zwei quadratische, große Schaufenster, in denen jeweils ein Werk steht. Eines davon: die Ausdruckstänzerin. Erst wenn man direkt davor steht, erkennt man die Fotografie – von weitem könnte es auch ein Gemälde sein. Was damit zusammenhängt, dass die Tänzerin bemalt wurde: Kunst und Natur gehen ineinander über. „Wir haben mit ihr eine Performance gemacht, Luna hat sie fotografiert“, erzählt Völker. Kirsten Luna Sonnemann ist Völkers Partnerin und teilt sich mit ihm das Kuhaus.
Das linke Schaufenster ist nicht weniger spektakulär: Ein nackter Frauenkörper hockt mit dem Rücken zum Betrachter, ein großer Vogelkopf thront faltig auf den Schultern. „ArtErhalt21 oder Schnabeltasse“ heißt das Gemälde – ein subtiler Hinweis auf die Situation der Künstler während der Pandemie. Vor dem Gebäude stehen auch noch einige Skulpturen, manche aus Eisen. Malerei und Grafiken, Skulpturen und Installationen – der gelernte Kunstschmied will sich nicht auf eine Richtung festlegen lassen. „Kunst zu machen, ist für mich eine seelische Notwendigkeit“, sagt er. Mit 15 Jahren fuhr er mit einem Interrail Ticket nach Florenz. „Ich blieb hängen in einer ganz anderen Welt.“ Er fing an, auf der Straße zu malen: „Weil ich Hunger hatte.“
Es ist immer noch schwierig, von der Kunst zu leben – zumal an einem Ort wie Murnau, wo jeder Künstler unter der „Künstlerlast“, wie Völker es nennt, leidet. Sofort kommen einem berühmte Namen in den Sinn: Die berühmten Expressionisten Gabriele Münter und Wassily Kandinsky haben hier gelebt und gearbeitet. Heute gibt es rund 80 bis 100 Künstler in Murnau, schätzt Marc Völker. Damit eine Künstlergemeinschaft gedeihen kann, braucht sie Raum und Anerkennung. Vor vielen Jahren hatte er eine Idee, wie man der Kunst mehr Aufmerksamkeit verschaffen könnte. 2017 wurde daraus ein Projekt, das seither – bis zur Pandemie – jedes Jahr mehr Zuspruch erhielt: Zusammen mit freien Künstlern, regionalen Gastronomen und der Gemeinde Murnau organisiert Völker „kunstkulinarische Rundgänge“ – auch „Kukulis“ genannt. Bis zu 24 Teilnehmer fahren (ab 17 Uhr) oder gehen (ab 11 Uhr) zu verschiedenen Gasthöfen und Restaurants, wo sie kulinarisch verwöhnt werden, während regionale Künstler ihre Werke persönlich vorstellen. „Zamm kemma“ (Zusammenkommen) heißt das Programm in diesem Jahr, das von acht Gastronomen und 19 Künstlern gestaltet wird.
Einer der „Kunstwirte“ ist Michael Gilg, Inhaber eines der traditionsreichsten Häuser im Ort. Das „Griesbräu“ im Murnauer Obermarkt war einst Brauerei, nach einem verheerenden Stadtbrand wurde es 1836 als Vierkanthof wieder aufgebaut – mit einem Kuh-, Ochsen- und Pferdestall, wie es dem Standard entsprach. Seit 1922 ist das Haus im Besitz der Familie Gilg und wird heute als Brauerei, Hotel und Restaurant geführt. Gabriele Münter und Wassily Kandinsky haben 1908 hier übernachtet und die Aussicht aus dem Fenster gemalt. „Und dann gibt es noch das Bild von Kandinsky, der die Münter gemalt hat, wie sie gerade die Tochter vom Griesbräu malt“, erzählt Gilg. In diesem Sommer stellt er im Gastraum Werke von Ben und Jochen Giessler aus. „Es ist schön, wenn man immer wieder was Neues hat.“
Wobei die Kunst nicht einfach Dekoration sein soll, das ist Marc Völker ganz wichtig. „Die Wirte und die meisten Leute wollen natürlich, dass die Werke möglichst schön sind und zu allem passen.“ Denn die Werke sind nicht nur während der Kukulis bei den Kunstwirten zu sehen, sondern über die ganze Saison. Manche Arbeiten werden von einem Wirt daher auch mal abgelehnt – wie „ArtErhalt 21“. Auch „Mathilde“ wird man eher nicht im Gasthaus sehen. Dafür aber eine Mischung unterschiedlichster Werke von Malerei und Fotografie über Mixmedia bis Bildhauerei. Bis 9. Oktober 2021 finden die „Kukulis“ statt, eine frühzeitige Anmeldung wird empfohlen.
Murnau und der Expressionismus
Wer in die kunsthistorische Bedeutung Murnaus eintauchen will, kommt an den Künstlern des „Blauen Reiters“ nicht vorbei. In dem Haus, das Gabriele Münter 1909 gekauft hat und mit Wassily Kandinsky bewohnte, waren viele Künstlerfreunde zu Gast, darunter August Macke, Franz Marc, Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky. Die Einheimischen betrachteten diese Treffen mit Argwohn – bald war das Haus mit dem Halbwalmdach als „Russenhaus“ bekannt. Wer es heute besichtigt, kann sich ein Bild von der Einfachheit des Lebens machen, das für Münter und Kandinsky Alltag war. Die erste Ausstellung des Blauen Reiters ist unter anderem hier geplant worden. Beide Künstler fanden nicht nur im Ort und der umgebenden Landschaft, sondern auch im Haus und im Garten zahlreiche Motive für ihre Malerei.
In Murnau entdeckte Gabriele Münter noch etwas anderes: die volkstümliche Hinterglasmalerei als Inspiration für eine neue Maltechnik. Generell interessierten sich die Expressionisten für die Volkskunst, weil die Einfachheit des Ausdrucks ihrem Bestreben nach abstrahierenden Darstellungsformen entgegenkam. „Ich war entzückt von der Technik“, schrieb Gabriele Münter später in „Bekenntnisse und Erinnerungen“, „und wie schön das ging und erzählte Kandinsky immer davon, um ihn auch dazu anzuregen – bis er auch anfing und dann viele Glasbilder machte.“ Bilder des Murnauer Hinterglasmalers Heinrich Rambold, der Gabriele Münter die neue Technik zeigte, kann man im Schlossmuseum Murnau besichtigen. Hier sind auch zahlreiche Werke von Gabriele Münter ausgestellt, ebenso von anderen Künstlern im Umfeld des „Blauen Reiters“.
1911 beschlossen Wassily Kandinsky und Franz Marc bei einem Kaffee in Sindelsdorf, wo Marc mit seiner Frau Maria lebte, einen Almanach herauszubringen. Beide Männer waren unzufriedene Mitglieder der „Neuen Künstler-Vereinigung München“(N.K.V.M.) – Kandinsky wurde wegen seiner zunehmend abstrakten Malweise kritisiert. Durch einen selbst herbeigeführten Eklat im Dezember wurde der Austritt für ihn – zusammen mit Franz Marc und Gabriele Münter – erleichtert. Der Almanach erhielt den Namen „Der Blaue Reiter“. Eine Ausstellung dazu hatten Kandinsky und Marc schon in Sindelsdorf und Murnau vorbereitet: Am Jahresende 1911 wurden neben Kandinsky, Münter und Marc auch Werke von Heinrich Campendonk, August Macke, Robert Delaunay und anderen ausgestellt. Obwohl sich keine feste Künstlergruppe bildete, gelten die Künstler im Umfeld des „Blauen Reiters“ heute als Wegbereiter der modernen Kunst. Die meisten Zeitgenossen hatten allerdings wenig Verständnis für die neue, expressionistische Stilrichtung.
Nähere Infos rund um die Künstlerkolonien Dachau und Prien am Chiemsee gibt es in der Ausgabe 03/2021. Einblicke ins Atelier des Murnauer Künstlervereins Tusculum finden Sie hier.
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