Im 19. Jahrhundert entstanden am Chiemsee und in Dachau die ersten bayerischen Künstlerkolonien – ländliche Zentren, in denen neue Stilrichtungen entwickelt wurden.
Der Weg zur ersten bayerischen Künstlerkolonie begann im Jahr 1828 mit einer Wanderung: Vier junge Männer – der 16-jährige Maximilian Haushofer, seine Cousins Karl und Josef Boshart und ihr Freund Franz Trautmann – gingen zu Fuß von München zum Chiemsee. Hier entdeckten sie die einsame Fraueninsel mit dem damals nahezu unbewohnten Kloster Frauenwörth aus dem 8. Jahrhundert und einigen Fischerhütten. Weder Max Haushofer noch seine Begleiter dachten an die Malerei, doch waren sie von den romantischen Eindrücken auf der Insel begeistert. Haushofer berichtete später in seiner unveröffentlichten „Selbstbeschreibung“ von einem Gewitter, das zuvor gewütet hatte, dann aber bei ihrer Ankunft einem „prächtigen Regenbogen“ wich: „Konnte ich unter schöneren Zeichen zum ersten Male mich dem Orte nähern, wo meine ganze Zukunft schlief?“
1830 kam Haushofer – inzwischen ein Student der Reichs- und Rechtsgeschichte der Universität München – erneut zur Fraueninsel. Auch bei diesem Besuch fand er nicht zur Malerei – dafür aber zur Liebe: Seine Auserwählte war die 15-jährige Anna Dumbser, Tochter des Lindenwirts, die er acht Jahre später heiratete. Haushofers Interesse an der Malerei scheint sich durch die Bekanntschaft mit Künstlern in München entwickelt zu haben. 1832 wurde ihm auf einer Wanderung nach Berchtesgaden klar: Er wollte Landschaftsmaler werden – ein Beruf, der damals im Trend lag. In den bayerischen Alpen und am Chiemsee fand er zahlreiche Motive und erhielt 1833 vom Münchner Kunstverein für sein erstes Ölbild „Abend am Chiemsee“ große Anerkennung.
Die einst einsame Fraueninsel profitierte vom zunehmenden Interesse der Maler aus München, die Max Haushofer mit seiner Begeisterung angesteckt hatte. Für die Inselbevölkerung, die durch den Niedergang der Abtei – 1803 wurde sie im Rahmen der Säkularisation geschlossen – in wirtschaftliche Not geraten war, taten sich mit den kreativen Besuchern neue Einnahmequellen auf. Das Gasthaus „Zur Linde“ wurde zum beliebten Treffpunkt: Das Gasthaus führte auf einer Liste von 1836 bereits 26 Künstler auf, die sich auf der Insel aufhielten. Eine neue Eisenbahnlinie zwischen München und Salzburg, die ab 1860 auch in Prien hielt, trug ihr Übriges zur Attraktivität der Künstlerkolonie bei.
Ausgehend vom Dorf Barbizon südöstlich von Paris, bildeten sich im 19. Jahrhundert in ganz Europa Künstlerkolonien. Die Orte waren ländlich, aber lagen in guter Erreichbarkeit größerer Kunstzentren – denn auch Maler, die Abstand vom akademischen Betrieb suchten, brauchten Galerien, um Käufer zu finden. Zu den Mitgliedern der Kolonien gehörten auch Schriftsteller, Bildhauer und Komponisten. Eigene Kunstströmungen entstanden oder wurden weiterentwickelt. Häufig stand ein Gasthaus – wie das Gasthaus zur Linde auf der Fraueninsel – im Zentrum der Kolonie, wo sich die Künstler günstig einmieten konnten und zum Erfahrungsaustausch trafen. Künstlerkolonien konnten auch durch die Entdeckung einer als ursprünglich empfundenen Landschaft – wie das Dachauer Moos – entstehen oder durch einen wohlhabenden Mäzen, der Künstlern einen Ort zum Leben und Arbeiten gab.
Der große Strom von Künstlern kam ab 1861 in das „bayerische Barbizon“: Unter den Landschaftsmalern befanden sich Adolf Lier, Eduard Schleich d. Ä., Andreas Achenbach und Albert Zimmermann. 1870 kamen Karl Raupp und Josef Wopfner, die schon zu ihrer Zeit das Bild als „Chiemseemaler“ prägten. Raupp, der in München eine Professur hatte, entdeckte 1869 die Insel Frauenwörth – sie wurde ihm, wie er selbst sagte, zur „zweiten Heimat“. Besonders interessant fand er die karolingische Torhalle des Klosters, die als eines der ältesten Gebäude Bayerns gilt. An Regentagen nutzte Raupp mit anderen Künstlern das Obergeschoss zum Malen. Josef Wopfner malte vorzugsweise den Alltag der Fischer und Überfahrten zwischen Festland und Inseln, aber auch dramatische Szenen in einem stürmischen See mit hohen Wellen.
Wie in vielen Künstlerkolonien mit großem Zulauf kam es auch auf der Fraueninsel nach einiger Zeit zum Abwandern von Künstlern, die zum ruhigen Arbeiten an andere, nahe gelegene Orte zogen – es bildeten sich sogenannte Filiationen. Rund um den Chiemsee waren das vor allem Prien, Gstadt und Übersee. Als die „Malerwinkel“ am Ufer besetzt waren, zogen die Künstler weiter ins Hinterland.
Kunst im Alltag in Prien am Chiemsee
Auch heute ist der Chiemsee eine beliebte Region für Künstler und Kunstinteressierte. In Prien verwandelte sich 2021 der ganze Ort zum dritten Mal seit 2019 in eine Kunstgalerie: Mehr als 70 Künstler stellten für die „KunstZeit“ an öffentlichen Plätzen, in Gastronomie, Museen und Galerien sowie in Geschäften ihre Werke aus. Auch Ateliers konnten nach Anmeldung besucht werden. „Hier gibt es Kunst an allen Orten und wohin man schaut“, sagt Kuratorin Ingrid Fricke.
Schon vor dem Haupteingang des Tourismusbüros, wo unser Rundgang mit Ingrid Fricke beginnt, erwarten uns farbenfrohe Skulpturen von Greta Fischer. Nicht weit davon ein Werk von Andreas Kuhnlein: „Ein Held“ heißt die Holzskulptur, die der Bildhauer mit der Motorsäge geschnitten hat. Die förmlich zerrissene Gestalt lädt zum Nachdenken ein: Was ist ein Held?
Ein paar Schritte entfernt befindet sich „Burger Wohnkultur Licht & Kunst“. Die Inhaberin Heike Burger bietet Design Möbel an und berät bei der Inneneinrichtung. Im Geschäft sind Bilder von Katharina von Werz und Skulpturen ihrer Tochter Anna Moll von Zumbusch ausgestellt. „Tanz mit dem Wind“ heißt ein großformatiges Bild, das über einem Sideboard an der Wand hängt. Die Kunstwerke ergänzen den Raum und das Sortiment, für die Inhaberin eine ideale Kombination. Insgesamt 52 Geschäfte nehmen an „Kunst im Shop“ teil, in der Broschüre „KunstZeit“ sind sie ebenso wie die Kunstwerke im öffentlichen Raum aufgelistet.
Wir gehen in Richtung Kurpark und begegnen weiteren Skulpturen: Die drei Figuren „Second Life“, „Rasten“ und „Bei drei“ hat Bildhauer Thomas Hans aus geschweißtem Eisenblech geschaffen. „30 Prozent unserer Teilnehmer sind Nachwuchskünstler“, sagt Ingrid Fricke. Thomas Hans ist einer davon. Vorbei geht es am Gebäude des Chiemsee-Saals, durch die Glasscheibe kann man ein Bild von Jakob Lang sehen, das in der Spachtel Rakeltechnik entstanden ist. Als wir uns umdrehen, fällt der Blick auf eine Gruppe von lebensgroßen Figuren, die hintereinander unter Bäumen stehen. „Auf zu neuen Ufern“ lautet der Titel der Installation von Christa Biere. Später sehen wir, wie drei Frauen vor den Skulpturen stehen geblieben sind.
Im Kurpark sind auf der Rasenfläche weitere auffällige Kunstwerke ausgestellt. Eine Gruppe aus Esche gearbeiteter Skulpturen des Bildhauers Marco Bruckner steht eng aneinandergedrängt auf einer Eisenplatte: „Wenn die Welt aus den Fugen gerät“ soll auf die Begrenztheit der globalen Ressourcen hinweisen und zum Denken anregen. „Ganz im Sinne von Denkmal als Denk-doch- mal-nach“, erklärt die KunstZeit-Kuratorin. Kurze Zeit später haben uns die drei Frauen eingeholt und bleiben ebenfalls vor der Installation stehen. Ingrid Fricke ist zufrieden. Kunst, wohin man schaut.
Kulturförder-verein und Euroart
Seit 1985 trägt der Kulturförderverein Prien Kulturereignisse mit und unterstützt lokale Künstler. 2002 entschied sich der Verein für den Beitritt zu EuroArt, der Vereinigung europäischer Künstlerkolonien unter der Schirmherrschaft des Europäischen Parlaments und der EU-Kommission, um den gegenseitigen Austausch zu fördern und das kulturelle Erbe zu bewahren. Seitdem beteiligten sich Priener Künstler an verschiedenen Ausstellungen, die im Rahmen von EuroArt europaweit organisiert werden.
Mehr über den Atelierbesuch bei Sylvia Roubaud und über die Künstlerkolonien in Murnau und Dachau erfahren Sie in der Ausgabe 03/2021.
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