Die Künstlerkolonie in Dachau entstand im 19. Jahrhundert. Bis heute ist die Kunstszene in Dachau sehr aktiv.
Vor zwei Jahren konnte man von Dachau aus die Adria sehen. Wer zwischen August und September durch das Fernrohr im Hofgarten des Dachauer Schlosses blickte, sah nicht die Silhouette Münchens mit der Alpenkette, sondern das Meer: Sandstrand, Badegäste, Wellen. Nun hat man vom Karlsberg aus bei günstigem Wetter einen atemberaubenden Blick auf die Landeshauptstadt und die Berggipfel, aber bis ans Mittelmeer reicht die Aussicht nicht. Was das präparierte Fernrohr den Besuchern bot, war pure Illusion: Das Video „Seeblick“ des Künstlers Johannes Karl war Teil der Freiluftausstellung „Raus“, die die Künstlervereinigung Dachau (KVD) zu ihrem 100-jährigen Jubiläum veranstaltet hatte.
Sehnsucht zu erzeugen – wie bei „Seeblick“ nach dem Meer – ist nicht das einzige Thema, das Johannes Karl beschäftigt. Der Vorsitzende der KVD widmet sich auch kritischen Fragen der Gegenwart. In dem Video „Ghostriders in the Sky“ steht der menschliche Fortschrittsglaube auf dem Prüfstand: Vier Reiter kämpfen in einem schier unendlichen Wettrennen um einen Sieg, der nicht errungen werden kann. Mal liegt der eine vorne, dann der andere, während Jahrhunderte Menschheitsgeschichte vorüberziehen. Wozu das Ganze, möchte man fragen, wenn es doch kein Ziel gibt? Genau das will der 39-Jährige mit seiner Kunst erreichen: dass sich die Betrachter seiner Werke Fragen stellen.
Was treibt ihn als Künstler an? „Es ist eine gewisse Haltung oder Lebensweise, die versucht, mit weniger Excel-Tabellen auszukommen“, sagt Johannes Karl bei unserem Treffen vor der Dachauer Kulturschranne, in der die KVD mehrere Räume belegt. „Es bedeutet, gedanklich andere Freiräume als existentiell wichtig zu sehen und in die Gesellschaft zu tragen. Künstler zu sein bedeutet, Kind zu bleiben.“ Einem bestimmten Interesse zu folgen, von dem man noch nicht weiß, ob es sich lohnen wird.
Etwa 50 künstlerisch aktive Mitglieder hat die Vereinigung, und ebenso viele Fördermitglieder. Die Corona-Pandemie hat die Kunstszene hart getroffen: Ohne Ausstellungen gab es kaum Möglichkeiten, Werke zu verkaufen.
Die Moorlandschaft als Inspiration
Seinen Ruf als Künstlerort erwarb sich Dachau schon im 19. Jahrhundert. Dazu beigetragen hat eine neue Art und Weise, Landschaften zu malen, bei der die Stimmung, das Licht in den Vordergrund traten. Viele deutsche Maler wurden von Künstlern der französischen Künstlerkolonie Barbizon dazu angeregt, nicht mehr im Atelier, sondern in der freien Natur zu malen – was nicht zuletzt auch durch die Entwicklung der Tubenfarbe möglich wurde. Zunehmend wandte man sich vom akademischen Kunstbetrieb der großen Städte ab. Nördlich von München entdeckten Künstler das Dachauer Moos, eine weitläufige Niedermoor-Landschaft, die von Maisach und Aubing bis Freising reichte. Mystisch und geheimnisvoll wirkten die wechselnden Lichtverhältnisse und Stimmungen im Moor. Für die Maler war das genau die Inspiration, nach der sie suchten.
„Der erste, der versucht hat, diese Atmosphäre im Dachauer Moos wiederzugeben, war Eduard Schleich der Ältere“, sagt Dr. Elisabeth Boser, Geschäftsführerin des Zweckverbands Dachauer Galerien und Museen, bei einem Rundgang in der Gemäldegalerie Dachau. Schleich hat zusammen mit seinen Malerfreunden Christian Morgenstern, Dietrich Langko und Carl Spitzweg das Moor in den 1850er Jahren erkundet. Spitzweg soll bei seinem Aufenthalt im Dachauer Schloss zu seinen Werken „Der Bücherwurm“, „Der Kaktusfreund“ und „Der Schreiber“ inspiriert worden sein. In der Gemäldegalerie ist unter anderem „Die gähnende Schildwache“ als charakterisch ironische Darstellung zu sehen. Eduard Schleich konnte seinen Freund, der vor allem Figuren malte, schließlich auch von Landschaftsmotiven überzeugen.
Die Attraktivität der Moorlandschaft sprach sich in Künstlerkreisen herum. Wilhelm von Diez, Professor für Historienmalerei an der Münchner Akademie, riet seinen Schülern – unter ihnen auch Ludwig Herterich, Adolf Hölzel und Max Slevogt – zum Malen im Dachauer Moos. Neben Slevogt besuchten auch Max Liebermann und Lovis Corinth Dachau – alle drei gelten heute als wichtige Vertreter des deutschen Impressionismus.
Der Diez-Schüler Adolf Hölzel ließ sich 1890 in Dachau nieder. Zusammen mit seinen Freunden Ludwig Dill und Arthur Langhammer gründete er den Künstlerkreis „Neu-Dachau“. „Ludwig Dill hat eine ganz eigene Maltechnik entwickelt“, sagt Dr. Boser. Gewässerter Malkarton wurde mit Temperafarben bemalt, während die „Maljungen“, die den Künstlern beim Tragen ihrer Ausrüstung halfen, Wasser auf die Leinwand spritzten. „Dadurch entstand dieses silbrige Licht.“ Bei Adolf Hölzel kann man die Entwicklung hin zu einer Auflösung von Formen erkennen – in der Spätphase, etwa in der „Abstrakten KompositionI“ und der „Komposition in Rot“, gar einen Vorläufer des Expressionismus. Dachau entwickelte sich nach dem Chiemsee zur zweiten Künstlerkolonie in Bayern. Auch immer mehr Frauen – despektierlich als „Malweiber“ bezeichnet – besuchten die privaten Malschulen in Dachau, denn an staatlichen Kunsthochschulen wurden sie nicht zugelassen. Auf alten Fotografien sieht man die Künstlerinnen in weiten Reformkleidern vor Kühen in der Landschaft stehen, den Pinsel in der Hand. Durch gesellschaftliche Zwänge gaben viele das Malen auf, wenn sie heirateten. In der Galerie sind Werke von Fanny von Geiger-Weißhaupt und Emilie Mediz-Pelikan zu sehen. Auch eine Vertreterin des frühen Expressionismus ließ sich in Dachau nieder: Paula Wimmer stand durch ihre Reisen mit vielen europäischen Künstlern in Kontakt und kannte Dachau von früheren Aufenthalten.
Geringe Bedeutung nach dem Ersten Weltkrieg
Mit dem Ersten Weltkrieg nahm die Bedeutung Dachaus als Künstlerort ab. Impressionistische Landschaftsbilder schienen danach nicht mehr geeignet, die wichtigen Themen der Menschheit zu beschreiben. Doch bis heute ist die Kunstszene in Dachau lebendig geblieben. Auch die Stadt trägt dazu bei: Sie vermietet Ateliers zum Wohnen und Arbeiten an Künstler, kauft Werke von Dachauer Künstlern an und unterstützt die KVD.
Zudem ist Dachau seit 1998 bei EuroArt vertreten, der Vereinigung europäischer Künstlerkolonien. Vom gegenseitigen Austausch profitieren alle Mitglieder, etwa wenn es um Ausstellungen geht. Florian Hartmann, Dachaus Oberbürgermeister, sammelt bei den jährlichen EuroArt-Tagungen Ideen. Auf diese Weise kam die Stadt zu ihrem „Künstlerweg“, den es auch im niederländischen Katwijk gibt: „Hier hat man Bilder an den Schauplätzen aufgestellt, wo sie gemalt wurden“, erzählt Hartmann. Seit zwei Jahren können sich Besucher in Dachau selbst auf Entdeckungsreise begeben: Ein Flyer der Tourist-Info beschreibt die 18 Stationen auf dem rund sechs Kilometer langen Rundweg, der unter anderem durch die malerische Altstadt und entlang der Amper führt. Der Rundgang beginnt auf der Rathausterrasse neben dem historischen Rathaus mit dem „Blick vom Karlsberg Dachau gegen das Gebirge“, auf dem Eduard Schleich d.Ä. die Landschaft von 1861 dargestellt hat.
Weitere Informationen zu den Künstlerkolonien in Murnau und Prien am Chiemsee gibt es in der Ausgabe 03/2021.
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